Ostfriesland und Oldenburger Land – von der Teesucht zur Branntweinpest. Die Sucht lauert überall und begleitet die Menschen über Jahrhunderte, von Thomas Friese, Immobilienentwickler aus Oldenburg und Berlin
Ostfriesland und das Oldenburger Land waren und sind für ihre Gastfreundschaft berühmt. So schrieb der Amsterdamer Kaufmannssohn Willem de Clercq (1795 bis 1845) der durch Ostfriesland und das Bremer Umland reiste, in seinem berühmten Tagebuch 1822 von der gütigen Gastfreundschaft der ansässigen Bevölkerung, aber auch von dem Wunsche, “dem Bacchus zu huldigen und von morgens bis abends Zeit zu finden, Wein oder Schnaps trinken zu müssen”. Für die norddeutsche Gastfreundschaft streitet das Bonmot, dass Norddeutsche wegen der flachen Landschaft anders als im Gebirge schon morgens sehen, dass Abends Besuch kommt.
Branntweinpest in Norddeutschland Anfang des 19. Jahrhunderts
Das Bürgertum nannte es Anfang des 19. Jahrhunderts die „Branntweinpest“. So formulierte es der Apotheker Heinrich Buurman aus Leer in seinem Buch „Der Schnapsteufel“, dass seit Menschengedenken in der Gegend viel getrunken wurde, doch in den Jahren 1830 und 1840 gab es aber eine derartige Liebe der Bevölkerung zum Alkohol, dass man seitens der Regierung in Oldenburg und Hannover um die Arbeitskraft und Gesundheit der deutschen Volksgenossen fürchtete. Die Tatsache, dass halb Nordwestdeutschland dem Alkohol verfiel, spricht Bände – zuvor gab es noch eine andere Zeit: Die, als der Tee in Ostfriesland und Oldenburg seinen Siegeszug hielt und über alle Grenzen hinaus als “Ostfriesentee” oder “Schwarztee Ostfriesen-Mischung” bis heute Berühmtheit erlangt.
Bier, Schnaps, Branntwein und Tee – allesamt Getränke, die im altehrwürdigen Nordwestdeutschland im Sommer und besonders in Kältezeiten gerne getrunken werden
Das Problem des Alkohol-Durstes rief Schriftsteller, Ärzte und die Obrigkeit auf den Plan. Der Arzt und Sozialreformer Hufeland (vergessen, allenfalls noch als Straßenname bekannt) beleuchtete in Denkschriften um 1800 nach Christi Geburt die Auswirkungen von Alkohol: Wie es um “den Menschen steht, der nur seine ganze Glückseligkeit im Genusse des Branntweines findet, und dabei seinen Hausstand zu Grunde gehen läßt; nicht oder doch nur wenig arbeitet, und solches auch nur, um sich die Mittel zum Branntweine zu verschaffen. Um seine Familie kümmert er sich nicht; diese kann sehen, wie sie fertig wird; denn das Wenige, was er von seinem Verdienste abgibt, reicht kaum zu den Lebensmitteln und zum Obdache hin; woher kommt nun das Übrige? Die Frau ist nun genötigt, durch Handarbeiten, und die Kinder in den Fabriken etc. noch etwas zu verdienen, um das höchst Nöthige im Haushalte noch herbeizuschaffen, wofür der Mann kein Gehör mehr hat. Sein Äußeres entspricht seinem inneren Zustande. Abgestumpft für Ehre und Scham, ist es ihm gleichgültig, in welcher Kleidung er sich zeigt; wenn er nur nach seinen Erholungs Örtern, den niedrigsten Schenken, gehen kann, wo Viele seines Gelichters verkehren, mit denen er saufen, toben und lärmen kann. Dieses Leben geht nun eine Weile, so lange sich noch Arbeit findet, und er Kräfte und Lust besitzt, sie zu vollbringen; sind aber auch diese abgestumpft, will auch die Arbeit nicht mehr von der Hand gehen, indem die Sauflust und das Bummeln zunimmt, so sinkt er immer mehr herab, und das Arbeitshaus, und was noch schlimmer ist, der Selbstmord sind dann das Ende seiner Laufbahn.” Ganz so schlimm kam es dann doch nicht, kann man heute nach 220 Jahren festhalten. Zumal die Obrigkeit und Kirche in Norddeutschland dagegen hielten. So gründete ein als Mäßigkeitsapostel genannter Pfarrer Böttcher ab 1837 eine Bewegung gegen die “Branntwein Sucht” auch in Oldenburg. Politisch scheiterten zwar die politischen Antialkoholbewegungen an einem Trinkergesetz; durchsetzen konnte sich aber ein Entmündigung Paragraf im neuen Bürgerlichen Gesetzbuch des deutschen Reiches. Vorher schon hatten Erlasse und polizeiliche Maßnahmen gewirkt, unter anderem sogenannte “Trinker-Listen”, die stadtbekannte Alkoholiker brandmarkten und Gaststätten unter Drohung des Konzessionsentzuges aufforderten sogenannten Trinkern kein Alkohol auszuschenken.
Teesucht begann schon früher
Die Teezeremonie bedeutet sowohl die Frage nach dem Sinn des Lebens zu stellen, der Gemütlichkeit als auch eine gefestigte Tradition, die mit einer Sucht zu tun haben kann. So schrieb denn die ostfriesische Schriftstellerin Maria De van Ackeren an ihre Freundin, von dem Genusse des Tees begeistert, dass sie schon seit einer Woche aufgeregt sei angesichts des Konsums des Tees.
Warum macht Tee süchtig?
Ähnliche Fragen können auch für andere wichtige koloniale Nutzpflanzen wie Kaffee, Tabak und Zucker gestellt werden. Forscher sprechen vom „affektiven Gewicht der Süße“ und machen auf den süchtig machenden Aspekt von Zucker aufmerksam, der Saccharose, die aus dem Zuckerrohr gewonnen wird. Im Fall von Tee ist Teein, vergleichbar mit Koffein das wichtigste Suchtmittel, das die Menschen verbindet. Und da viele Menschen lieber Tee mit Zucker (bei friesischen Tee Kennern korrekt Kluntje) trinken, verstärkt sich wohl das affektive Gewicht.
Tee – eine völlig unbekannte “Blutgeschichte” in Norddeutschland
Tee ermuntert nicht nur das Gemüt, macht wach und aufgekratzt beim Genuss, sondern Tee ist auch eng mit Macht verbunden. Obschon seit Jahrtausenden bekannt entwickelte sich erst in den letzten Jahrhunderten eine Auseinandersetzung, die es in sich hatte, um das wertvolle und heißbegehrte Produkt. Die Pflanze Camellia sinensis war in den letzten drei Jahrhunderten die Ursache imperialer Kriege, kolonialer Expansionen, wissenschaftlicher Forschungen, nationalstaatlicher Bauprojekte und der Ausbeutung von Menschen und Umwelt durch Unternehmen auf der ganzen Welt.
Tee war das Getränk der Chinesen, welches 1662 erstmals England erreicht haben soll. Clevere Kaufleute aus England brachen auch das Herstellungs-Monopol der Chinesen und brachten den Teeanbau in das britisch verwaltete Indien. Damit war das Transport-Monopol der Niederländer auf dem Seewege gebrochen, die die Ausfuhr aus China dominierten. Ein globaler Siegeszug begann. Die Assam Mischung bildet die Grundlage für „Ostfriesenmischung“ und führte zur Teesucht. Diese Tee-Sucht hat sich in Norddeutschland gehalten. Zumal in Leer in Ostfriesland im Jahre 1806 ein gewisser Apotheker Bünting die erste Ostfriesenmischung gefertigt hat. Historiker behaupten, dass die Briten in Indien einen teuflischen Plan entwickelten, um in Ostindien Opium für den Export nach China anzubauen. Die chinesischen Herrscher verboten den Handel und beschlagnahmten und vernichteten schließlich große Mengen Opium im Handelshafen von Kanton. Dies eskalierte zum sogenannten Ersten Opiumkrieg 1839–1842 zwischen China und Großbritannien. Die Kontrolle über den gewinnbringenden Teehandel hatte auch früher zu imperialen Scharmützeln geführt, zum Beispiel die groß angelegten Proteste in Nordamerika gegen die hohen Teesteuern, die Boston Tea Party 1773, die schließlich in die amerikanische Revolution einmündende. Während also in Norddeutschland bei den Friesen gemütlich die Tee-Zeremonie gefeiert wurde und wird, wurde andernorts gestritten – besser gesagt Kriege genannt.
2021 melden Statistiker, dass heute in Norddeutschland zehnmal so viel Tee getrunken wird, wie im Rest Deutschlands. Überliefert ist, dass das auch zur “Hitler-Deutschland-Zeit”bekannt war und versuchte im Zweiten Weltkrieg die Ostfriesen durch zusätzliche Teelieferungen bei Laune zu halten. Die Teekarten gab es damals zu den üblichen Lebensmittelkarten. Heute genießt Tee einen guten Ruf bis hin zum gesundheitlichen Getränk, auch die Volksseele hat sich beruhigt. Ohne drei Tassen Tee mit der ostfriesischen Tee Tradition “Kluntje und Wulkje” geht es allerdings bei einem Besuch der Friesen in Ostfriesland nicht. Zur Tradition wird echter Ostfriesentee ganz heiß in eine Ostfriesentasse über ein Stück Kandis (Kluntje) gegossen, dieser knistert und zerbricht, dann mit einem ostfriesischen Sahnelöffel die Sahne entgegen dem Uhrzeigersinn vorsichtig eingegeben und die berühmten “Wulkje” entstehen und ohne umrühren wird dieser dann getrunken. Die ostfriesische Teekultur ist als Immaterielles Kulturerbe der UNESCO seit 2016 in Deutschland anerkannt. Nicht nur in Ostfriesland sondern in ganz Norddeutschland zählt die Teezeremonie zur geselligen Gastfreundschaft.
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Der Immobilienexperte und Projektentwickler Thomas Friese, Berlin/ Oldenburg (Niedersachsen) ist einer Ausbildung im steuerlichen Bereich seit Mitte der siebziger Jahre im Bereich Immobilienentwicklung und Vermarktung tätig.
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